Was wäre, wenn Deutschland die Vier-Tage-Woche einführt?
Blogpost, 09.06.2022
Die Corona-Pandemie hat uns vieles gelehrt. Zum Beispiel den Wert von Gesundheit und Natur, wie schnelllebig der bisherige Alltag war, aber auch, dass die klassische, ortsgebundene Form des Arbeitens mittlerweile bloß noch ein Konzept von Vielen darstellt. Gerade über die Frage des Ortes wurde unter dem Begriff „Home-Office“ in letzter Zeit viel diskutiert. Doch wie sieht es eigentlich mit der zeitlichen Flexibilität aus?
Durchschnittlich 41 Arbeitsstunden hatten Berufstätige in Deutschland im Jahr 2019 am Ende jeder Woche auf dem Konto. Klassisch gemäß dem Nine-to-Five-Modell, wonach auf jeden Tag bis zum Wochenende rund acht Arbeitsstunden entfallen.
Das Konzept der Fünf-Tage-Woche existiert deutschlandweit erst seit dem Ende der 60er-Jahre, zuvor war die Sechs-Tage-Woche Alltag. 1969 wurde übrigens auch das Internet erfunden.
Trotz des gleichen Startpunktes, ergeben sich zwei Verläufe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Während dem Internet im Jahre 2022 keinerlei Grenzen gesetzt sind und nahezu alles möglich scheint, unterscheidet sich die Stundenzahl einer heutigen Arbeitswoche kaum von der einer damaligen Woche.
Sollten wir dieses eingestaubte Konzept, das einen so maßgeblichen Teil unseres Lebens ausmacht, nicht hinterfragen und über das Argument „das haben wir schon immer so gemacht“ hinausdenken?
Die kurze, aber wohlbegründbare Antwort lautet: Unbedingt!
Auftritt „Vier-Tage-Woche“
Nach der „Values & Visions“-Studie von GIM foresight, sehnen sich die Deutschen nach mehr Freiheit, sinnlich-körperlicher Nähe, klassischer Familie oder auch Heimat. Sie hoffen auf Einfachheit, und mal wieder Mensch sein zu dürfen. Wie gelangen wir also dort hin?
Experimentelle Ansätze in anderen Ländern und Unternehmen zeichnen ein Bild von einer Arbeitswoche der Zukunft, in der sich eine gesunde Work-Life-Balance mit einem entsprechenden Verdienst und den zuvor angeführten Sehnsüchten und Hoffnungen durchaus vereinen lässt:
So testete beispielsweise Microsoft Japan im Jahr 2019 die Vier-Tage-Woche (bei gleichbleibendem Gehalt aber 20% weniger Arbeitszeit) mit vollem Erfolg. Die Zufriedenheit der Mitarbeitenden stieg, während Papier- und Energieverbrauch parallel reduziert werden konnten.
Mehr Lebenszufriedenheit im Tausch gegen weniger Produktivität – dieser Preis ließe sich jedenfalls vermuten. Allerdings konnte auch die Unternehmensproduktivität in der Testphase um ganze 40% im Vergleich zum Vormonat gesteigert werden! Damit dies gelingen konnte, wurde beispielswiese die Dauer bei knapp der Hälfte aller Meetings von rund 60 Minuten auf 30 verkürzt.
Eine essenzielle Erkenntnis für ein Land, dessen Sprache aufgrund der vorherrschenden Arbeitsmoral und -kultur mit „Karōshi“ ihren eigenen Begriff für den „Tod durch Überarbeiten“ kennt. Doch wie verhält es sich mit der Vier-Tage-Woche in anderen Ländern?
Ganz ähnlich. Angestoßen von Arbeiterbewegungen im Jahre 2015 und 2017, veranlasste die Regierung Islands eine Verkürzung der Arbeitszeit von zuvor 40 Stunden auf rund 36 Stunden für über 1% der erwerbstätigen Bevölkerung (über 2.500 Arbeitskräfte). Diese Veränderung betraf verschiedenste Schichtarbeitsberufe aber auch klassische Nine-to-Five-Jobs und erstreckte sich über Arbeit in Büros, Kindergärten, Krankenhäusern und vieles mehr.
Auch hier ging die Vier-Tage-Woche mit einer erhöhten Zufriedenheit und besseren Work-Life-Balance einher und auch die Produktivität blieb entweder erhalten oder stieg sogar an.
Mittlerweile wurden deshalb über 86% der erwerbstätigen Bevölkerung Islands in ein verkürztes Arbeitsmodell überführt oder erhielten das Recht dazu, die Arbeitszeiten zu verringern. Auch hier bleibt der Lohn von der verkürzten Woche unberührt.
Wie sieht es also in Deutschland aus?
Wo auch immer die Vier-Tage-Woche getestet wird, sie scheint zu funktionieren. Lehnen wir uns also für das folgende Gedankenspiel leicht zurück und überlegen, wie ein Deutschland aussieht, in dem die Vier-Tage-Woche Alltag ist:
Bezüglich der Frage, welcher Tag frei von Arbeit sein würde, wäre vermutlich der Name Programm, frei am Freitag. Die vorherige Rarität eines verlängerten Wochenendes wäre somit Alltag und könnte einen Anstieg an Wochenend-Ausflügen mit Familie und Freunden zur Konsequenz haben.
Wer nicht verreisen möchte, könnte den Extra-Tag mit dem Lieblingshobby verbringen, etwas Neues erlernen, oder auch einfach mal nichts tun und durchatmen.
Ob bewusst oder unbewusst, wir konsumieren ständig. Nur nachvollziehbar, dass ein ganzer Tag mehr Zeit zum Konsumieren (sei es eine Reise oder ein weiterer Tag in der Innenstadt zwischen Zara & Co.) sich auch positiv auf die Wirtschaftsleistung Deutschlands niederschlagen würde. So war es jedenfalls bei dem eingangs erwähnten Wechsel von der Sechs- zur Fünf-Tage-Woche.
Die Möglichkeiten, den freien Wochentag zu nutzen, scheinen unbegrenzt. Umso geplanter muss nun jedoch der Arbeitsalltag ablaufen, schließlich resultiert der freie Tag aus den äußerst produktiven, restlichen Wochentagen.
Weniger Meetings, Optimierungen des Wissensmanagements und der Kommunikation sowie drohende Heimarbeit – unter anderem damit sähe sich die Vier-Tage-Woche der Zukunft in jedem Fall konfrontiert. Damit die Produktivität aufrecht erhalten werden kann, müssten Unternehmen ihre eingestampften Prozesse, wie Abläufe von Meetings, E-Mail-Kommunikation und (Un-) Pünktlichkeit hinterfragen. Für Arbeitnehmende wäre das Meeting nur so lange interessant, wie es eine Rolle für die jeweilige Person spielt. Wer fertig ist, darf gehen.
Da das gleiche Arbeitspensum nun für die Arbeitnehmenden in vier Tagen anfällt, droht die verkürzte Woche den Druck, und somit den Stress, auf Arbeitnehmende zu erhöhen. Wer nicht fertig wird, müsste die Arbeit dann gegebenenfalls mit nach Hause bzw. im Home-Office abends nochmal an den Schreibtisch nehmen.
Dennoch sind die Studien- und Testergebnisse hier klar: Für die Arbeitnehmenden geht die Vier-Tage-Woche eindeutig mit einer Verbesserung der Lebenszufriedenheit einher. Demnach ist es kaum verwunderlich, dass Island im Jahre 2020 in der Skala der Lebenszufriedenheit auf Platz 2 lag. Platz 1 belegte Finnland, deren aktuelle Premierministerin den Vorschlag einer Vier-Tage-Woche bereits 2019 äußerte.
Neben den Arbeitnehmenden, würden allerdings auch Unternehmen von der Vier-Tage-Woche stark profitieren. Wer in der Lage ist, gleiches Gehalt mit mehr Freizeit zu verknüpfen, hätte auf dem Arbeitsmarkt einen entscheidenden Vorteil. Die Einsparungen der Ressourcen, wie sie bei Microsoft Japan erkennbar waren, würden das Unternehmen ebenfalls positiv hervorheben, da, nach der Nachhaltigkeits-Studie von GIM foresight, nur gewinnt, wer Nachhaltigkeit als Unternehmen wirklich ernst nimmt.
Weniger ist also wirklich mehr
Island machts vor, Zeit für Deutschland nachzuziehen. Die Vier-Tage-Woche scheint zeitgemäß, überfällig und für alle Parteien attraktiv. Eine echte Chance, den in Stein gemeißelten Ausdruck „Zeit ist Geld“ in „Zeit und Geld“ zu übersetzen. Das einstige „Entweder-oder“ darf zu einem „Sowohl-als-auch“ werden. Trau dich, Deutschland!
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