Was wäre, wenn der Personenverkehr in Deutschland kostenlos wäre?
Blogpost, 07.10.2022
In den vergangenen Wochen hat es viel Bewegung rund um die Deutschen Bahn gegeben. Nicht zuletzt dank der 3-monatigen Testphase eines monatlichen 9€-Tickets für den deutschlandweiten Personennahverkehr.
Ungeachtet der Überlegungen, ob und in welcher Form diese Probephase fortgeführt werden könnte, kristallisierte sich ein Ergebnis Monat für Monat erneut heraus: Kostengünstige Verkehrsoptionen werden von der Bevölkerung dankend angenommen.
So wurden beispielsweise allein im Juni über 21 Millionen Tickets verkauft, und wer sich selbst in Bus oder Bahn begeben hat, dem dürften die Menschenmengen rasch aufgefallen sein.
Doch ließe sich diese Testphase nicht noch weiter denken? Wie sähe ein Deutschland aus, in dem der gesamte Personenverkehr, ob nah oder fern, vollkommen kostenfrei wäre?
Ein Blick nach Luxemburg zeigt, dass diese Vorstellung durchaus realisierbar ist. Dort ist der gesamte öffentliche Personennahverkehr kostenfrei, auch für Touristen. Die Steuerzahlenden kostet dieser Luxus jedoch 41 Millionen Euro im Jahr, verteilt auf die rund 645 Tausend Einwohner:innen Luxemburgs.
Allerdings ist die deutsche Einwohnerzahl weit um das Hundertfache größer als die Luxemburgs. Eine stumpfe Übertragung à la „Es geht in Luxemburg, also muss es auch in Deutschland gehen“ verkennt demnach eindeutig die Komplexität der Errichtung eines kostenfreien Personenverkehrs.
Es bedürfte zunächst einer klaren Finanzierungsmöglichkeit, welche nicht nur den Ausbau des Bus- und Bahnnetzes ermöglicht, sondern auch die langfristig kostenfreie Nutzung in Deutschland sichert.
Der Schlüssel könnte hierbei in veränderten Priorisierungen von Auto und Personenverkehr liegen. Während der Autoverkehr mit durchschnittlich 30 Milliarden Euro pro Jahr subventioniert wird, stehen dem ÖPNV nur knapp 10 Milliarden Euro zur Verfügung. Während beispielsweise in Luxemburg 500€ pro Kopf in den Schienenverkehr fließen, liegt dieser Betrag in Deutschland bei nur 80€.
Sollte diese Form der Subventionierung zugunsten von Bus und Bahn in Deutschland angepasst werden, so könnte dies auch mit einem flächendeckenden Umdenken der deutschen Gesellschaft belohnt werden: Bus und Bahn könnten innerhalb der nächsten Jahrzehnte den Stellenwert des Autos erlangen, sofern sie kostenfrei sind und das zugrundeliegende Netzwerk weiter ausgebaut wird.
Wie das Beispiel der Hauptstadt Estlands zeigt, können auch kleinere Maßnahmen diesen Prozess des Umdenkens in der Gesellschaft auslösen. So wurden in Tallinn die Parkgebühren stark angehoben, woraufhin der Ertrag in den für Anwohner kostenfreien Nahverkehr fließt.
Auf dem Weg zum schlussendlich kostenlosen Personenverkehr in Deutschland ist auch die Vielzahl an möglichen Zwischenkompromissen zu berücksichtigen. So muss nicht der gesamte Bus- und Bahnverkehr unmittelbar kostenlos werden, sondern auch flächendeckende Vergünstigungen, wie beispielsweise ein durchdachtes Folgeticket als Reaktion auf die 3-monatige Testphase des 9€-Tickets, wären denkbar. Auch der Wirkungsbereich des Tickets kann variiert werden, sodass zunächst der ÖPNV kostenfrei wird, im Fernverkehr jedoch die Preise erhalten bleiben.
Deutschland nach der Einführung des kostenlosen Personenverkehrs
Derzeit stellt gerade der Wohnort eines der stärksten Argumente gegen den kostenlosen ÖPNV dar. Wer auf dem Land wohnt, hat deutlich schlechtere Anbindungen an den öffentlichen Personenverkehr. In Zukunft darf der Wohnort, egal ob ländlich oder städtisch, also keinen Indikator mehr für die Nutzung der Verkehrsangebote darstellen.
In dem Vereinigten Königreich nimmt sich das Start-up RideTandem genau diesem derzeit noch bestehenden Problem an: Das Londoner Unternehmen bringt Menschen, Arbeitgebende und örtliche Verkehrsanbietende zusammen, sodass Arbeitnehmende mit ähnlichen Arbeitswegen und -zeiten auf Ersatzangebote im ländlichen Raum zurückgreifen können.
Gerade in der Übergangsphase bis zum schlussendlich kostenfreien Personenverkehr könnten derart alternative Lösungen die (ländliche) Bevölkerung zusätzlich entlasten.
Zwar würde das ausgebaute Bus- und Bahnnetzwerk einen Zuwachs an Passagieren erlauben, jedoch wäre der Andrang in den ersten Wochen vermutlich gewaltig. Dies lassen jedenfalls die überfüllten Züge mit dem Gültigkeitsbeginn des 9€-Tickets vermuten.
Der anfängliche Andrang darf in jedem Fall nicht unterschätzt werden, jedoch würde er sich vermutlich mit der Zeit wieder legen, sodass die Netzwerkerweiterung dem Zuwachs an Nutzenden gerecht werden wird.
Mit noch mehr zeitlichem Abstand würden sich erste Veränderungen bemerkbar machen. So müssten beispielsweise Busse und Bahnen, um einen angemessenen Ersatz zum Auto bereitstellen zu können, in einer deutlich höheren Frequenz fahren, sodass auf den deutschen Straßen ein signifikanter Zuwachs an öffentlichen Verkehrsmitteln sowie ein klarer Rückgang von Autos verzeichnet werden könnte.
Je städtischer die Wohngegend ist, desto obsoleter würde das private Auto werden. Dann hätten autofreie Innenstädte langfristig eine Chance (Siehe „Autofreie Innenstädte“). Neben dem klassischen Personennahverkehr würde vor allem das Fahrrad ein Allzeithoch erfahren.
Sämtliche Fortbewegung würde definitiv „grüner“ werden. Dies bezieht sich sowohl auf die Fortbewegungsmittel, indem das Auto vielmehr durch Fahrrad, Bus und Bahn ersetzt werden würde, als auch auf städtischere Gebiete selbst. In der Vergangenheit versiegelte Flächen könnten somit in Ballungsgebieten wieder naturnäher gestaltet werden und die Lebensqualität in Städten wieder steigen.
Obwohl durch Smog belastete Städte eher in populationsreicheren Ländern wie China verortet werden, leiden auch viele Großstädte in Deutschland unter einer stetig zunehmenden Feinstaubbelastung. Dafür ist Statistiken zufolge vor allem der Straßenverkehr verantwortlich, sodass in Vergangenheit bereits 57 Umweltzonen deutschlandweit eingeführt wurden. Diese Zonen erlauben nur das Fahren mit einer grünen Plakette, für deren Ausstellung es eines geeigneten Abgasfilters bedarf.
Sollte es demnach einen kostenfreien Personenverkehr geben, welcher einen großen Schritt in Richtung autofreier Innenstädte darstellen würde, hätte dies erfreuliche Folgen für die Luftqualität besagter Städte.
Vor allem die Bevölkerung scheint dieses Ergebnis zu begrüßen: So ergab die Studie „Zukunftsperspektiven 2030“ von GIM foresight, dass mehr als die Hälfte der Befragten die verbesserte Luftqualität als den größten Vorteil autofreier Innenstädte ansah.
Allerdings besitzt auch diese Medaille eine Kehrseite. Der hier skizzierte Rollentausch von öffentlichen Verkehrsmitteln und dem Auto ist weitaus komplexer als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Gerade in Deutschland würde der erwartbare Rückgang des Autos demnach klar wirtschaftliche Konsequenzen mit sich bringen, da die Automobilbranche Deutschlands umsatzstärkste Branche darstellt. Darüber hinaus wäre eine Vielzahl an Arbeitsplätzen gefährdet, sodass eine Umstrukturierung der Subventionierungen mit Sicherheit eine laute Gegenrede provozieren würde. Zwar würden durch den Ausbau des Bus- und Bahnnetzes neue Arbeitsstellen geschaffen werden, jedoch könnte nur ein Bruchteil der Arbeitenden aus der Automobilbranche nahtlos in die neue Branche überführt werden.
Verkehr in „The Line“
Einen eigenen, in Bezug auf den Verkehr jedoch ähnlichen Ansatz verfolgt die Großstadt „The Line“, Teil der saudi-arabischen Megastadt „NEOM“. Zwar soll diese erst noch entstehen, mit Kosten von knapp 425 Milliarden Euro, dafür wird jedoch nicht an großen Versprechungen gespart.
Die 200 Meter breite und 170 Kilometer lange Großstadt soll für rund neun Millionen Menschen ein Zuhause bieten können. Damit auf den insgesamt 34 Quadratkilometern auch 9 Millionen Menschen Platz finden, soll The Line eine Höhe von 500 Metern erreichen. Vollkommen autofrei und ausgestattet mit einer Ende-zu-Ende-Verbindung innerhalb von 20 Minuten, verspricht The Line Vorreiter in Sachen Mobilität zu werden.
Diese der Mathematik zufolge über 500 km/h schnelle Schienenverbindung soll im Untergrund verortet werden, sodass oberirdisch genug Raum bleibt für das alltägliche Leben der Bevölkerung im Grünen. Dort sollen zudem sämtliche Produkte des täglichen Bedarfs innerhalb von maximal fünf Minuten fußläufig erreichbar sein.
Auch fliegende Taxis scheinen in Zukunft in The Line ihren Auftritt zu erhalten. Diese werden jedenfalls derzeit von dem deutschen Unternehmen Volocopter entwickelt, sodass sich The Line sowohl unterirdischer Hochgeschwindigkeitsverkehrsmittel als auch Flugtaxis bedienen könnte.
Die Großstadt The Line, beziehungsweise das eigentliche Hauptprojekt NEOM, stehen jedoch auch in der Kritik. Die generellen Vorwürfe gegenüber Saudi-Arabiens bezüglich der Verstöße gegen Menschenrechte bestätigen sich auch in diesem Großprojekt: Die bis dato karge Wüstenlandschaft wurde von rund 20.000 Beduinen besiedelt, die jedoch aufgrund der Bauarbeiten Zwangsräumungen und Verhaftungen erfuhren. Sich widersetzende Anwohner:innen vor Ort fürchten nach eigenen Angaben sogar den Tod.
Obwohl das Projekt selbst kaum fortschrittlicher und revolutionärer sein könnte, zeugt gerade der zwischenmenschliche Umgang mit den Bewohner:innen und Kritiker:innen von Rückschrittlichkeit.
Eines ist klar: The Line ist ein Ausnahmeprojekt, im Guten wie im Schlechten. Dazu gehört auch das immense Budget und der damit verbundene Wille der Umsetzung des Projekts.
Wollen wir uns in Deutschland einem kostenlosen Personenverkehr annähern, wird dies jedoch nur über viele kleine Fortschritte funktionieren, die schlussendlich für Veränderung in breiter Masse und auf Dauer sorgen.
So stellt jede aktuell geführte Debatte rund um die Umgestaltungen des öffentlichen Personenverkehrs, jeder Vorschlag über Möglichkeiten der Finanzierung oder auch jede ausgebaute Bahnstrecke einen kleinen Schritt dar, durch welchen sich die gesamte Gesellschaft in Richtung alternativer Fortbewegung bewegt.
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