Megatrend Fragmentierung
Blogpost, 09.08.2019
Wir ordnen uns neu
Jede menschliche Gesellschaft, von der Dorfgemeinschaft bis zur Nation, setzt sich aus vielen kleineren Gruppen zusammen. Derselbe Wohnort, dieselbe Sprache, ein gemeinsamer Glaube oder eine ähnliche Sozialisation stiften Identität und Gemeinschaftsgefühl. Alle Menschen sind dadurch Teil gesellschaftlicher Klassen, Schichten und Milieus.
Mit welchen dieser Gruppen sich Menschen besonders stark identifizieren und ob es möglich ist, von einer Gruppe in die andere zu wechseln, ändert sich im Laufe der Zeit. Waren beispielsweise im Mittelalter die Grenzen zwischen Adel und der Allgemeinbevölkerung kaum überwindbar, versprechen moderne Gesellschaften, dass der Aufstieg in die gesellschaftliche Elite durch Bildung und Arbeit für alle möglich ist.
Erneut zeigt sich heute ein Wandel der gesellschaftlichen Identitätskriterien sowie der Bruchlinien und Grenzen zwischen den Gruppen – und zwar auf allen Ebenen, von global bis individuell. Denn durch das Internet nehmen wir immer stärker wahr, wie vielfältig und pluralistisch unsere Gesellschaften tatsächlich sind. Das bricht bisher gekannte gesellschaftliche Ordnungen auf und verlangt Neuorganisation von jedem Einzelnen. Fragen nach der eigenen Identität gewinnen damit immer stärker an Bedeutung – und sind gleichzeitig immer schwerer zu beantworten.
Wer sind meine Freunde?
Innerhalb von Gesellschaften führen gleich mehrere Prozesse dazu, dass es für den Einzelnen immer komplexer wird, sich zugehörig zu fühlen. Was ehemals als klar umrissene soziale Gruppe erschien, zersplittert vielfach in kleinere Kreise. Immer mehr Menschen entdecken im Internet Gleichgesinnte für ihre Interessen oder Einstellungen, auch für hochspezielle. Sie können sich zusammenschließen und politisch aktiv werden.
Dabei kann sich zeigen, dass vermeintliche Randgruppen eventuell gar nicht so randständig sind, wie sie von sich dachten. Dies ermöglicht ein neues Selbstverständnis für deren Mitglieder, die sich nun vor allem untereinander austauschen und gegenseitig in ihrer Weltsicht bestärken können.
Begünstigt durch das Design der Plattformen, auf denen dieser Austausch stattfindet und die abweichende Meinungen gerne herausfiltern, entstehen sogenannte Filter Bubbles, in denen man nicht mehr sieht, was einem nicht gefällt, oder Echoräume, in denen man nur den Widerhall der eigenen Stimme und die der Mitstreiter hört. Anderslautende Töne dringen nicht mehr durch.
Wer bin ich, und mit wem?
Doch die Fragmentierung der Gesellschaften geht noch tiefer: Sie reicht bis in das Ich hinein, bis in die Persönlichkeit ihrer einzelnen Mitglieder. Die Fülle gesellschaftlicher Untergruppen macht es uns ungeahnt leicht, uns mit vielen Zielen, Hobbies, Vorlieben oder Ähnlichem zu identifizieren – und zwar gleichzeitig.
Jede Plattform im Internet spannt einen eigenen Möglichkeitsraum auf. Jeder Einzelne kann sich nun auf unterschiedlichen Plattformen in unterschiedliche Kontexte begeben und unterschiedliche Interessen ausleben. Zu den gewissermaßen natürlichen Rollen, in die wir hineinwachsen – etwa Sohn, Arbeitnehmer oder Parteianhängerin – tritt dadurch eine enorme Vielzahl an selbstgewählten, multiplen Identitäten.
Selbst diametral entgegengesetzte Eigenschaften, die sich gesellschaftlich eigentlich ausschließen, können im eigenen Leben vereint werden. Es kann sich ein „Patchwork-Ich“ entwickeln, welches sich wie ein Flickenteppich aus vielen verschiedenen Stoffen und Farben zusammensetzt.
Das Individuum – im eigentlichen Wortsinne der unteilbare Kern des Ich und Grundlage der Identität – wird nun doch immer teilbarer, wird zum „Dividuum“, das schneller als früher unter einer Vielzahl an Rollen wählen kann und sich in mehreren Kreisen gleichzeitig aufhält.
Welchen Einfluss hat der Megatrend Fragmentierung auf Markenführung und Zielgruppenansprache?
Früher war es relativ einfach, seine Zielgruppe zu beschreiben. Dies geschah nach Alter, Geschlecht, sozialem Status, Einkommen und weiterer soziodemografischer Merkmale. Da sich Gruppenzugehörigkeiten zukünftig immer stärker anders definieren, muss es auch in der Beziehung zwischen Marke und Kunde zu einer Veränderung kommen.
Es gibt nicht mehr DIE Zielgruppe, sondern eine Vielzahl verschiedener Zielgruppen, die sich hinsichtlich ihrer Wertvorstellungen und Bedürfnisse unterscheiden. Diese können sich, hinsichtlich soziodemografischer Eigenschaften, unterscheiden oder ähneln.
Der Fehler, der heute häufig gemacht wird: Bei der Markenführung wird sich zu stark auf vermeintlich „harte“ Fakten gestützt, als vielmehr die eigentliche Heterogenität innerhalb der Zielgruppe zu erkennen.
Gelingt es, seine Zielgruppe zu entschlüsseln, ist dies ein enormer Schub für die Markenführung. Kennt man seine Zielgruppe, kann man diese passgenau ansprechen und Produkte oder Dienstleistungen maßgeschneidert anbieten.
Die steigende Fragmentierung beeinflusst also nicht nur unser gesellschaftliches Miteinander, sondern auch die Markenführung von morgen und heute.
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