Freiheit reloaded

Alle kennen die Kundenbedürfnisse der Vergangenheit. Corona hat aber das Wertegefüge der Menschen schon jetzt beeinflusst und wird es weiter tun. Aber wo geht die Reise hin? Die GIM foresight-Studie „Der schwarze Schwan Covid-19“ hat Antworten.
 

Blogpost, 11.06.2020

Nimmt der „Parc de la Distance“ die Zukunft der postpandemischen Stadtplanung vorweg - quasi von der Smart City zur Corona City? Aus der Vogelperspektive erinnert der „Social Distancing Park“ des österreichischen Studio Prechts an ein Labyrinth mit spiralförmigem Muster. Verlaufen kann man sich allerdings nicht: Anders als im Labyrinth gibt es keine Abzweigungen und keine Sackgassen. Jeder Pfad hat einen Ein- und einen Ausgang und nur eine Laufrichtung – schließlich sollen menschliche Begegnungen explizit vermieden werden. Als Inspiration dienten den Designern japanische Zengärten und französische Barockgärten: Hecken und Kies, klare Linien und geometrische Formen. Das macht einmal mehr deutlich: Die Corona-Krise ist auch eine Krise des Raums und das Werk des Studio Precht denkt dies konsequent weiter, arbeitet an einer Refiguration des Raumes ebenso wie die aufgemalten Kreidekreise, die Stadtparkbesucher momentan auf Abstand halten sollen.

„Real escape“ statt „real estate“:
Spazieren mit Abstand im Parc de la Distance (Bild: Precht)

 

Die Krise als Innovations-Boost

Das Missverständnis beginnt schon beim Begriff social distancing, der eigentlich distant socializing meint, und reicht bei den meisten Post-Corona-Spekulationen bis weit in die Verwechslung von gegenwärtigem Krisenverhalten mit der Zeit danach: eine Zeit, die viel mehr von der Sehnsucht nach realer menschlicher Nähe und renitentem Hakenschlagen geprägt sein wird wie die Zukunfts- und Wertestudie „Der schwarze Schwan Covid-19“ sagt; und eben weniger vom Wunsch nach Alleinsein und geführtem Gehen in den Panoptikums unserer Welt. Die angeblich neue Ernsthaftigkeit und große Transformation unseres Wertegefüges wird aktuell überschätzt, weil Gegenwart und Zukunft, weil Ist und Sollen, Wunsch und Wahrscheinlichkeit verwechselt oder vermischt werden. Selbstverständlich ist das Alltagsleben während einer Krise ein anderes und ja, viele werden sich an mehr Homeoffice und weniger Dienstreisen gewöhnen. Auf der Ebene der Werte, den sozial vermittelten, handlungsleitenden Zielen im Leben, ist danach dann aber doch wieder vieles so, wie es einmal war. Die Strukturmerkmale einer Gesellschaft ändern sich nicht so schnell und fundamental, weil soziale Routinen stabil habitualisiert sind – die Corona-Krise ist längst noch keine kollektive Trauma-Erfahrung wie ein Weltkrieg es ein kann –, und weil die Gehirne der Menschen in der Regel dann doch immer nur das Gelernte anwenden – die Krise ist schließlich keine Kollektiv-Therapie.

Vor allem aber wurde die Rechnung bei derzeitigen Post-Corona-Konzepten ohne die Grundkonstante der Moderne gemacht: Wissenschaft und Medizin überlassen uns eben nicht passiv Fortunas Schicksalsrad, sondern gestalten aktiv das scheinbar Unverfügbare. Das Prinzip des Impfstoffs ist das Prinzip der Gestaltung, ist das Prinzip der Innovation. Innovationen schlagen Brücken und Durchbrüche, manchmal gehen sie auch einen Umweg, um Dinge möglich zu machen, die entweder bisher nicht möglich waren oder die plötzlich nicht mehr möglich sind. Diese Krise bietet genau dafür zahlreiche Gelegenheiten zur Gestaltung, weil es jetzt das ganze öffentliche Leben wieder zu erwecken gilt. Sie ist ein Innovations-Boost. In Zeiten der Customer Centricity muss es am Ende immer dem Menschen dienen und das ist auch gut so. Daher stellt sich aber auch die Frage, was erwarten, und vor allem, was wünschen die Menschen?

Wertelandkarte der Zukunfts-Szenarien: Die X-Achse stellt die Wahrscheinlichkeitsdimension dar und die Y-Achse die Wunschdimension. Jedes Wertefeld wird sozusagen als Abweichung vom Durchschnitt der jeweiligen Dimension im Koordinatensystem abgetragen (Quelle: GIM)

 

Vom Drang ins Freie

Die repräsentative GIM foresight Studie „Der schwarze Schwan Covid-19“ möchte für Sie die Frage beantworten, welche Auswirkungen die Corona-Krise auf Werte und Einstellungen der Konsumenten hat. Die Studie blickt auf den Rahmen menschlichen Handelns: Das Wertegefüge. Ihre Perspektive ist keine tagesaktuelle, sondern eine langfristige. Es geht um Nuancen und Akzentverschiebungen, auch um Widersprüche und Spannungsverhältnisse. Dies soll dabei helfen, Markenpositionierung und Markenwahrnehmung zu reflektieren und vorausschauend zu handeln. Hierzu wurde ein Update des seit vielen Jahren laufenden Forschungsprojektes „Values & Visions 2030“ durchgeführt, um die Corona-bedingte Neujustierung von Erwartungen und Befürchtungen auf der Werte-Ebene beschreiben zu können. Die Ergebnisse der 1. Welle machen deutlich: Das gegenwärtige Fahren mit angezogener Handbremse hat durchaus einen Einfluss auf das, was wir uns nach der Krise wünschen, was unsere vorauseilende Sehnsucht nach dem Lockdown reizt. Die Studie sagt, dass die starken Einschränkungen während der Krise die Hoffnung auf den realen Austausch mit Freund*innen und Familie, sowie auf Genuss und Freiheit nähren. Trotz, oder gerade wegen der Rezession, die durch die Corona-Krise ausgelöst wurde, werden wir einen Anstieg von Freiheitsliebe und einen Drang ins Freie sehen. Die Mehrheit hält es mit 66 Prozent für wahrscheinlich, dass wir nach der Krise und den damit einhergehenden Freiheitseinschränkungen wieder mehr Wert auf Genuss gelegt haben werden – und 77 Prozent der Bevölkerung wünschen sich das auch. Beim Freiheits-Szenario ist das Ergebnis noch deutlicher, es lautet: „Die persönliche Freiheit, Bewegungsfreiheit und Versammlungsfreiheit, wird als wichtiger wahrgenommen als vor der Krise.“ 78 Prozent der Bevölkerung halten das für wahrscheinlich und 74 Prozent wünschen sich das auch sehr.

Freiheitsdrang trifft auf Ressourcenknappheit

Wird uns allen wieder bewusster, wie schön das Leben sein kann? Der neue Hedonismus wird an die Lebenslust der „goldenen Zwanziger“ erinnern. Doch die Vorzeichen sind mit Sicherheit andere, der Hedonismus wird minimalistischer, der Konsum entschleunigter. Und damit gilt es in Zukunft ein zentrales Spannungsverhältnis auszubalancieren: Freiheitsdrang trifft auf Ressourcenknappheit – auf knapper werdende finanzielle Ressourcen, auf Angst vor Rezession und Arbeitslosigkeit. Das heißt, die Schwerpunkte bei Luxus und Genuss werden sich verschieben: Weniger Ich-bezogen, mehr geteilt. Weniger materialistisch, eher erlebnishungriger. Weniger verschwenderisch, dafür verantwortungsvoller und vorsorgeorientierter. Denn, so lernen wir aus der Studie, die Sehnsucht nach gesamtgesellschaftlichem, verantwortungsvollem Handeln ist weiterhin groß. Fürsorge und Vorsorge werden wichtiger. Die Konsumentinnen und Konsumenten lehnen es aber ab, diese Verantwortung alleine schultern zu müssen. Unternehmerisches Engagement wird zunehmend eingefordert. Die Hoffnung liegt auf individueller Entlastung durch kreative Kooperation und innovative Zusammenarbeit. Kollaborative, kokreative Ökonomie schält sich zunehmend als Zielbild heraus. Wenn Organisationen, Marken und Kampagnen es nicht schaffen sichtbar zu machen, dass verantwortungsvolles, nachhaltiges Handeln funktionieren kann, wenn Unternehmen einen ehrlichen und zentralen Beitrag leisten, dann ist Vertrauen schnell verspielt. Denn dass nur die Konsumentinnen und Konsumenten verzichten sollen, ist in einer Zeit, in der man sich endlich mal wieder des Lebens erfreuen will, keine gute Idee. Ebenso wird die Gesellschaft zunehmend die Frage stellen, weshalb in Krisen alle mit ihren Steuergeldern und Lohneinbußen einspringen müssen, in den fetten Jahren aber immer nur Wenige am Gewinn beteiligt werden. Mit anderen Worten: Die Grundhaltung vieler Menschen wird kritischer, da bisherige Selbstverständlichkeiten in Frage gestellt werden. Menschen wollen ernst genommen und auf Augenhöhe angesprochen werden.

Ein neuer Luxus

Diese Krise vollzieht sich also in einer Zeit, in der Individuen, Organisationen und Marken vor der Sinn- und Identitätsfrage stehen: Worin besteht das gute Leben? Was ist gerecht? Wie passe ich in diese Welt, ohne dass diese Welt dabei einen Schaden nimmt? Warum bin ich überhaupt da und wozu gut? Das ist eine Chance für Marketing- und Werbetreibende, die sich fragen, auf welche Werte können wir jetzt aufsetzen, um sie schon jetzt erfolgreich zu nutzen. Prozesse der Re-Orientierung fördern schließlich zu Tage, was relevant und was bei Lichte betrachtet weniger wichtig ist. Im Zuge der in der Studie angestoßenen Reflexion sagen die Befragten: es ist das Lokale; es sind Beziehungen; es ist ein Leben, das auch noch für diejenigen was übriglässt, die uns nachfolgen. GIM foresight hat diese Entwicklungstendenzen in dem Megatrend Re-Lokalisierung zusammengefasst. So besteht beispielsweise der Wunsch, dass Luxus viel mehr an den schönen Erfahrungen vor Ort und weniger an physischen Besitztümern gemessen wird. Das „Re-“ bei der Re-Lokalisierung meint indes kein Zurück zu einer scheinbar heilen Welt, die es nicht mehr gibt. Es geht darum, das Lokale im Globalen, die Gemeinschaft im Ego, das Gemeinwohl im Gewinn, die Resilienz in der Effizienz wieder stärker zu verankern. Das ist eine Frage der Haltung; noch viel mehr aber eine der gelebten Praxis.

Statt zurück zum Weiter so, gilt es nun nach vorne zu schauen. Die Corona-Krise irritiert die Wissensgesellschaft so sehr, weil ihre Ideale Berechenbarkeit und Kontrolle sind. Corona handelt aber von Unsicherheit und Nicht-Wissen. Das ist in komplexen Systemen normal. Worauf es in Zukunft also ankommt, ist die Freiheit zur visionären Gestaltung dieses alten und zugleich neuen Normals zu nutzen. Die Auswirkungen der Corona-Krise sind nicht in Gänze absehbar. Eines ist jedoch klar: Wir brauchen einen Kompass in der Krisenzeit und darüber hinaus. Die GIM-Wertestudie „Der schwarze Schwan“ gibt die Orientierung, wie Marken in den nächsten Monaten und Jahren nachgesteuert werden müssen. Die fokussierte Vertiefung ist für jede Branche und Marke möglich. Die Basis-Studie ist jetzt auf www.gim-foresight.com kostenfrei verfügbar.

Veröffentlicht in: New Business, 24 (08.06.2020), S. 14-16.