Der Purpose – Gratwanderung zwischen Bluff und Heiligenschein
Blogpost, 05.08.2022
Unsere Welt war nie vernetzter. Die eigenen Möbel, sämtliche technischen Geräte und die Inhalte des vollen Kühlschrankes sind allesamt das Produkt der Globalisierung und durchlaufen in ihrer Herstellung viele Ecken des Planeten.
Doch während westliche Industrienationen wie Deutschland bisher weitestgehend die Vorzüge der Vernetzung der Welt genießen konnten (häufig auf Kosten von Entwicklungs- und Schwellenländern), kippt dieses für uns unbeschwerte Gefüge zunehmend, sodass die Konsequenzen auch hier immer deutlicher werden.
Der Klimawandel, die größer werdende Kluft zwischen Arm und Reich, beinahe aufgebrauchte Ressourcen oder drohenden Zunahmen pandemischer Ausbrüche lassen uns bisherige Verhaltensweisen immer mehr hinterfragen, sowohl auf privater als auch gesamtgesellschaftlicher Ebene.
Gerade die Coronapandemie hat unsere alltäglichen Abläufe erschüttert und uns spüren lassen, wie ungewiss die Zukunft ist. Dies hatte zur Folge, dass wir andere Fragen an uns, aber auch Unternehmen gestellt haben: Fragen nach gesellschaftlicher Verantwortung und dem Sinn, dem Existenzsgrund eines jeden Unternehmens. Das „Wozu?“ rückt immer mehr in den Vordergrund.
Dr. Hannes Fernow, Foresight Director bei GIM foresight, sieht mit den 2020er Jahre ein Jahrzehnt vor uns liegen, in welchem Marken und Organisationen regelrechte „Sinnkrisen“ drohen.
Für Unternehmen wird es daher entscheidend sein, einen strategischen, gleichzeitig jedoch flexiblen Blick auf mögliche Zukünfte zu werfen, um bestmöglich auf den gesellschaftlichen Umbruch vorbereitet zu sein.
Purpose-Unternehmen
Sogenannten Purpose-Unternehmen scheint dieser Blick in die Zukunft gelungen zu sein. Während in der Vergangenheit allein die Profitorientierung oftmals den Existenzzweck eines Unternehmens begründete, zeichnet sich die Ausrichtung am, im Idealfall unternehmenseigenen, Purpose durch ein soziales, ökonomisches und ökologisches Verantwortungsbewusstsein aus.
Der Purpose ist somit eher als Vision zu verstehen, und demnach klar von der Mission eines Unternehmens abzugrenzen: So bezieht sich letztgenannte auf das Innere des Unternehmens, fokussiert also Geschäftsaktivitäten, Produkte oder auch die Wirtschaftlichkeit, während der Purpose hingegen einen Perspektivwechsel ermöglicht, da sich das Unternehmen an dem gesellschaftlichen Mehrwert statt einer Profitmaximierung orientiert.
Gerade durch Statements lässt sich der selbstzugeschriebene Purpose klar erkennen.
Google, und dieses Streben spiegelt sich eindeutig in der Suchmaschinenfunktion des Unternehmens wider, handelt demnach nach folgendem Vision-Statement: „to provide access to the world’s information in one click.“
Der Anspruch des Purpose darf und kann es nicht sein, alle Probleme der Welt im Alleingang zu lösen. Dennoch verbirgt sich hinter diesem simplen Satz ein klarer Beitrag, den Google leisten möchte, nämlich ein erleichterter Zugang zu Informationen.
Auch Nachhaltigkeit und Umweltbewusstsein können natürlich Gegenstand des unternehmenseigenen Statements werden. So handelt die Kleidungsmarke „Patagonia“ beispielsweise nach dem Leitsatz „We´re in business, to save our home planet“.
Um Worten Taten folgen zu lassen, schaltete Patagonia 2011, pünktlich zum Jahr für Jahr umsatzstärksten Tag, dem „Black Friday“, eine ganzseitige Werbung in der NewYorkTimes mit dem Bild einer Patagonia-Jacke und dem Schriftzug „Don´t buy this jacket!“. Darunter wurden mit dem Wasserverbrauch der Jacke und den CO₂-Emissionen zudem Gründe aufgeführt, die gegen den Verkauf sprechen.
Zwar ist die Herstellung einer nicht vollständig klimaneutralen Jacke auf den ersten Blick nur schwer mit der Vision, anteilig den Heimatplaneten retten zu wollen, vereinbar, allerdings ist Kleidung beinahe auf der ganzen Welt alternativlos. Vor diesem Hintergrund hat Patagonia mit den Begriffen „Reduce – Repair – Reuse – Recycle“ einen Ansatz zu Nachhaltigkeit in der Mode entwickelt:
Je länger beispielsweise die Patagonia-Jacke getragen wird, desto nachhaltiger wird sie. Patagonia bietet demnach Reparaturmöglichkeiten in die Jahre gekommener Produkte an, und vermittelt Produkte auch als Second-Hand-Mode an Dritte. Der vielleicht nicht vollkommen klimaneutralen Jacke wird also durch Patagonia Langlebigkeit verliehen, bis sie nach möglichst vielen Jahren zurück in den Kreislauf geht und recycelt wird.
Die aus Berlin stammende BIO COMPANY ist ebenfalls bereit, auf eigene Einnahmen zu verzichten, um auf ein höheres, gesellschaftliches Problem hinzuweisen: Mit der Werbekampagne „Kauf Weniger“ prangert das Unternehmen den massenhaften Konsum an, denn nichts zu kaufen sei immer noch nachhaltiger als Bio und bewusst einzukaufen.
Die Praxis zeigt jedoch die Schwierigkeiten, denn sowohl Patagonia als auch die BIO COMPANY steigerten ihre Gewinne nach den konsumkritischen Werbeanzeigen deutlich.
Auch eine Untersuchung durch strategy& zeigt, dass ein klarer Purpose das Potenzial bietet, den Gewinn sowie die Zufriedenheit und Effizienz der Mitarbeitenden zu steigern. Marken, die den eigenen Profit hinter gesellschaftlichen Problemen anstellen, werden schließlich durch zusätzliche Unterstützung von Kund*innen belohnt. Zeitgleich steigt die Motivation der Mitarbeitenden, die sich somit weitaus besser mit dem eigenen Unternehmen identifizieren können.
Der ausformulierte „Sinn“ des Unternehmens vermag demnach die Sinnhaftigkeit im Leben der Mitarbeitenden zu steigern, welche im Falle eines klar definierten Purpose laut strategy& um durchschnittlich 32% mehr von Stolz, Zufriedenheit, Leidenschaft, Begeisterung und Motivation erfüllt waren.
Vorsicht vor Sensewashing
Diese Gegebenheiten, sei es das Potenzial steigender Einnahmen oder die erhöhte Mitarbeiterzufriedenheit, öffnen allerdings die Tür für Sensewashing.
Während im Falle des weitaus bekannteren „Greenwashing“ Unternehmen sich zur Verkaufsförderung als klimafreundlich, CO2-neutral oder nachhaltig ausgeben, so versuchen Unternehmen im Falle des Sensewashing das eigene Image durch einen unauthentischen Purpose künstlich zu verbessern. Der Purpose, eingesetzt als Mittel zum Zweck der Umsatzsteigerung.
Dieser Schritt mag im ersten Augenblick verlockend wirken, allerdings wird dies vielen Unternehmen zum Verhängnis. Die Entwicklung eines Purpose darf nämlich nicht als reine Marketing-Maßnahme verstanden werden, sondern sollte bestenfalls zu Ende gedacht werden: Der Purpose sollte sich in den Lieferketten, bei den Mitarbeitenden und dem Endprodukt selbst widerspiegeln.
Denn: Das Gespür für Sense- und Greenwashing wird in der Gesellschaft immer feiner, und manipulierende, selbstdarstellerische Weltretter, in einer Welt, die tatsächlich gerettet werden muss, demnach umso härter abgestraft.
Bluff oder Heiligenschein
Schlussendlich begibt sich jedes Unternehmen auf der Suche nach dem richtigen Purpose auf eine Gratwanderung. Der gewählte Purpose darf schließlich weder bloße Marketingmaßnahme noch ein Versprechen der alleinigen Weltrettung werden.
Während im Falle des Sensewashing der Purpose eindeutig ernster genommen werden sollte, darf er auch nicht zu groß gedacht werden. Sofern der Purpose mit „Sinnhaftigkeit“ oder „Ethik“ gleichgesetzt wird, setzt sich das Unternehmen durch eine Formulierung in Weltretter-Manier selbst den Heiligenschein auf, wodurch der Purpose viel zu groß und dadurch unerreichbar wird.
Auch wenn manche Unternehmen vielleicht gern die gesamte Welt auf einmal retten würden, ergibt sich die Existenzberichtigung im Sinne des Purpose aus der Verbesserung, nicht der Rettung der Welt. Seien es wie bei Patagonia Hinweise auf den Konsumwahn der Gesellschaft oder die Bereitstellung von Informationen im Internet, wie im Falle von Google.
Fazit
In Purpose-Unternehmen schlummert eine Menge Potenzial. Mitarbeitende können sich dadurch besser mit dem eigenen Unternehmen identifizieren, aber auch der Umsatz und die Sinnhaftigkeit der Arbeit im Unternehmen kann ansteigen.
Auch Kund*innen befürworten die Ausrichtung an einem klar formulierten Purpose. Nicht grundlos wurden die konsumkritischen Werbeanzeigen von Patagonia und der BIO COMPANY mit mehr Konsum „belohnt“.
Im Kern geht es allerdings um eines: Authentizität. Niemand verlangt von Unternehmen, dass sie die Welt retten, und dennoch ist der Beitrag eines jeden Unternehmens wichtiger denn je, sei es sozial, ökologisch oder auch ökonomisch.
Wer sich im Klaren über die eigenen Werte, Kernkompetenzen sowie die Existenzberechtigung des Unternehmens ist, kann den eigenen Purpose in Worte fassen, und ab dem Moment alles daran setzen, diesem gesellschaftlichen Versprechen Schritt für Schritt etwas gerechter zu werden.
Further reading:
Fernow, Hannes: Der Purpose in der Sinnkrise – vorsorgende Markenführung im Zeitalter der Ungewissheit, in: Brand Purpose. Wie Marken nachhaltig Wert schaffen, hg. v. Andreas Baetzgen, S. 69–80, Stuttgart 2022.
Fernow, Hannes: Brand Purpose: Heute schon die Welt gerettet? (2021) – Ein Beitrag über Brand Purpose in Zeiten von Corona in P!NG, Nr. 61.
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